Kinder-Film&Fernseh-Tage 1994

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„Kinder halten viel aus“ – Ästhetik und Gewalt in Kino und Fernsehen

Zusammenfassung

Rückblick

  • Gert K. Müntefering,

Leiter Tagesprogramm beim WDR, Mitglied des Kuratoriums GOLDENER SPATZ von 1995 bis 2005

Nun ist es doch wohl eine romantische, vorindustrielle Idee, vom Kinderfernsehen zu erwarten, dass es jene elementaren emotionalen Erlebnisse wiederherstellt, bei denen selbst die Eltern vergaßen, dass die weite blaue See beim URMEL nur aus mechanisch bewegter Folie bestand. Diese Gefühle sollten die Eltern mit ihren kleinen Kindern dann doch eher bei den vielen unverdrossen einladenden Puppenbühnen suchen, wo man sich beim Erscheinen des Krokodils noch unter dem Stuhl verkriechen kann, während die noch so grauslichen Untoten im Pixelraum nur das Aufnahmetempo von Kartoffelchips verlangsamen. Aus gegebenem Anlass sei werbend hinzugefügt, dass das Kino Erlebnisräume auch für jüngere Kinder von ganz anderer Art bietet. Am Siebenschläfertag im Jahre 1997 bescherte das Tief „Ulla“ eine Menge Regen. Überhaupt war es nicht der beste Sommer für die Badesaison, somit aber nicht die schlechteste Voraussetzung für gute Einschaltquoten. Darauf nun legt der Kinderkanal Erfurt seit Beginn in seinem Gründungsjahr 1997 entschieden Wert, womit er zwar verständlich, sich aber selbst reduzierend das Mantra Marktgeschehen übernimmt und folglich auch damit in das Geschäftsmodell Spartenkanal eintritt. Dieser Übergang vom Programm Kinderfernsehen zum System Kinder- Kanal hat Folgen. Die Direktion geht wie selbstverständlich von der Annahme aus, dass die ständige Verfügbarkeit von Serien, gezeichnet und gespielt, eine Art Gesellschaftsvertrag ist, den Privilegien der Erwachsenen nachempfunden. Selbst wenn nun, beileibe nicht immer, ästhetische und inhaltliche Qualitäten den öffentlichrechtlichen Mehrwert für diese Systematik begründen, so entfaltet diese Präsenz doch auch das Recycling als Planungssystem. Diese Bürde lastet ohnehin schwer auf dem gemeinen Zuschauer, der verdutzt zur Kenntnis nimmt, dass hinter den Werbekaskaden seiner privaten Freundes-Sender für – sagen wir mal – Spielfilme 2009 nur fünf alte Burschen stecken – und ein neuer B-Knüller. Es ist die Inszenierung eines ununterbrochenen, großen Wiedersehens in der Annahme, dass sich die Gefühle ja auch wiederholen und nicht unbedingt immer neuer Reize bedürfen und eben auch keiner neuen Lizenzen. Und schließlich hat ja auch nicht jeder alles gesehen oder nur das zweite Drittel der ersten Hälfte. Unweigerlich mündet die Betrachtung ganzer TV-Landschaften in einer kulturkritischen Pose, die jenes und dieses programmliche Element zubilligt, anderes mürrisch vermisst und spekulativ darüber nachsinnt, wie wohl eine ideale Fernsehkurve zu verlaufen hätte. Ich widerspreche hier andererseits aber auch meinem guten alten Freund Armin (Maiwald – d.R.), der mit einer gewissen Melancholie die rauschhaften Pioniertage der frühen Sachgeschichten erinnert, als das Fernsehen auch noch generell und darüber hinaus ununterbrochen innovativen Erkenntnis-Spaß beschert hätte. Ich finde auch heutzutage wöchentlich mindestens ein Dutzend Sendungen da und dort, die mir ge- oder so deutlich missfallen, dass es schon wieder Spaß macht. Gelegentlich auch eine Kindersendung. Das reicht – der Rest wird gelesen.

Freilich muss der Kritik von Zeit zu Zeit eingeräumt werden, dass sie auch dort Recht haben kann, wo es etwas schmerzt. Die Begeisterung darüber, ohne sportliche oder politische Unterbrechung alle Trick- und Spielserien abspielen zu können, die Sicherheit der Standardplätze, das Wohlwollen in der öffentlichen und internen Akzeptanz und nicht zuletzt die kommunikativen Zuschauernachweise, das alles entspricht den Postsäcken, die einstmals mit Kinderzeichnungen DAS FERNSEHEN erreichten. Der Kinderkanal ist in diesem Sinne eine Relaisstation für die Internationale der Trickindustrie, die er gleichzeitig mit betreibt – und das ist auch völlig in Ordnung. Kinder lachen sich eben gerne schlapp über seltsame Figuren, die in Zeit und Raum eine universalistische Kultur schaffen. Aber es kann auch sein, dass dieser Raum von heute auf morgen unsichtbar wird. Man kommt gar nicht mehr auf die Idee, dass Kinderprogramm gesucht werden muss – es ist ja da. Ja, man kann in aller Unschuld sogar hören, Kinderfernsehen sei nun Vollprogramm. Das aber, mit Verlaub, wäre eine verhängnisvolle Selbsteinschätzung. Ein Vollprogramm bedient nach allgemeiner Übereinkunft jedes Genre, unbeschadet gewisser Schwerpunkte wie besonderer Ekelspaß oder Sport oder Bundestagssitzungen. Kinderfernsehen will nun sicher mehr als ein Genre sein, aber es ist dennoch weit entfernt von der Varianz eines emanzipierten Fernsehens. Fernsehen für Kinder kann diesen Weg wohl so gar nicht gehen, denn schon Nachrichten im wirklichen Sinne des Wortes, die Essenz des Fernsehens, also die Dramen im Weltgeschehen – sie erreichen ein Kinderprogramm nun einmal nicht unter dem Signal Neuigkeit, sondern mit dem Akzent kindgerechter Vermittlung und mit entsprechender Selektion. Logisch! Dieses Beispiel gilt auch für andere Erwachsenenwelten im Fernsehen, so sehr Kinder auch dazu gehören, Anlass sind und teilnehmende Beobachter und Opfer. Wie steril eine mechanistische Übertragung von genrehaften Erfolgen und Eigenschaften des Erwachsenenfernsehens sind, das zeigte sich exemplarisch bei der Reihe KRIMI.DE, in der Formalismus und Statistik jede Lebendigkeit außerhalb der Action erstickten. Ausgerechnet das, was dem aufmerksamen Betrachter neben sozialer Betreuung bzw. dem Mangel daran als erstes im Zusammenhang mit Kindern in den Sinn kommt und was schon deshalb doch wohl nicht richtig sein kann, lässt nun aufmerken: das gute alte Märchen – nur echt mit dem Grimm. Sicher, da gab es in den 60er Jahren die antibürgerliche Vermutung, dass „Böses aus den Märchenbüchern“ nicht nur die Kindheit, sondern den Menschen schlechthin anfällt und mindestens in den Faschismus treibt. Bettelheim hingegen sah etwas später das Märchen als unverzichtbare Lebensschule und Magische Anstalt.


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