Elke Ried
heute: Produzentin und Geschäftsführerin der Zieglerfilm Köln GmbH, Gründungsbeauftragte der Stiftung GOLDENER SPATZ und Geschäftsführerin der Stiftung von 1994 bis 1996
Eigentlich hätte ich ja gewarnt sein müssen: Das Festivalbüro GOLDENER SPATZ in Gera hatte die Adresse „Sorge 9“. Neun Sorgen also, nomen est omen? 1993, vor 16 Jahren, musste dieser GOLDENE SPATZ jedenfalls, wenn er weiterleben sollte, neu erfunden werden: Traditionen, gute Traditionen waren zu wahren, Neues musste hinzukommen – ein Stück Wende, gelebte Vereinigung.
Doch der Reihe nach: Zu Beginn des Jahres 1992 war ich von der Stadt Gera zur Gründungsbeauftragten der Stiftung GOLDENER SPATZ und Leiterin des Festivals berufen worden, und es blieb mir etwa ein Jahr, um dem gerupften SPATZEN wieder Flügel zu verleihen. Es gab also viel zu tun – für mich und die vielen engagierten Mitstreiter aus Ost und West.
Meine persönliche Geschichte mit dem GOLDENEN SPATZ beginnt freilich zehn Jahre früher: 1983 nahm ich erstmals als ausländischer Gast am Festival teil. Zu dieser Zeit arbeitete ich für das bundesdeutsche Kinder- und Jugendfilmzentrum und leitete das Internationale Kinderfilmfestival in Frankfurt am Main, hatte die Sektion Kinderkino bei den Internationalen Kurzfilmtagen in Oberhausen mitgegründet und vertrat die Bundesrepublik im Internationalen Kinder- und Jugendfilmverband CIFEJ. Ich kannte also die Festival-Landschaft, in Deutschland wie in vielen anderen Ländern. Dann kam ich nach Gera und fand dort etwas, was ich von anderen Festivals nicht kannte: Hier war der Treffpunkt der Kinderfilm- und -fernsehszene der DDR, hier wurde erstaunlich viel und offen diskutiert und kritisiert, Bilanz gezogen, der Standort bestimmt, Perspektiven aufgezeigt. Bei den engagierten Streitgesprächen ging es um Inhalte, künstlerische Umsetzung, ästhetische Fragen der präsentierten Filme. Die branchenüblichen Eitelkeiten schienen hier auf ein Mindestmaß gestutzt. In der DDR war der Kinderfilm eine Selbstverständlichkeit, die staatliche Förderung garantierte eine kontinuierliche Produktion und sicherte die Abspielbasis im Kino. Das Festival hatte immer während der Schulferien stattgefunden, der Besuch des Kinderpublikums war organisiert, die Filmschaffenden waren bei der DEFA oder beim Fernsehen angestellt, die Teilnahme am Festival war obligatorisch. Nach der Vereinigung hatten sich die Vorzeichen grundlegend geändert – das erste gesamtdeutsche Festival 1991 verlief so traurig, dass wir lieber den Mantel des Schweigens darüber decken wollen.
Also 1993: Das Festival sollte sich an der Tradition des GOLDENEN SPATZ als Publikums- und Arbeitsfestival orientieren. Dadurch und dazu sollte er so glanzvoll und attraktiv werden, dass jeder, der ihn besuchte, mit dem Gefühl nach Hause fahren konnte: Es hat sich gelohnt, nach Gera zu kommen. Deshalb war eine der wichtigsten Fragen: Wie erreichen wir, dass die, die mit Kinderfilm und Kinderfernsehen in Deutschland, in Ost wie West, beschäftigt sind, ins neue Gera kommen? Hier kommt man ja nicht zufällig gerade mal vorbei oder kann noch drei andere Dinge nebenbei erledigen. Wer sich auf diesen Weg macht, kommt der Sache wegen. Das Festival musste wieder attraktiv werden, es musste auch Attraktionen haben – nicht einfach wie bei einem retrospektiven Festival, das lange ohne den besonderen Charme von Premieren auskommen konnte.
Wenn man die Programminformation für das Fachpublikum und die abschließende Pressemitteilung zum ersten neuen GOLDENEN SPATZ noch einmal zur Hand nimmt, stechen die Dinge, die damals neu waren, gleich in’s Auge. Hier nur einiges in Stichworten: die Gründung der Stiftung als neuer Träger des Festivals – erstmals in Deutschland engagieren sich öffentlich-rechtliche und private Sender für eine gemeinsame Sache, die erste gesamtdeutsche Kinderjury mit 30 Kindern aus allen Bundesländern, Vorpremieren von internationalen Kinofilmen, die im Laufe des Jahres in die deutschen Kinos kommen – im ersten Jahr etwa das restaurierte BAMBI, erstmals gibt es einen Internationalen Kinder-Film&Fernseh-Markt, der sofort von Experten aus 19 Ländern besucht wird, eine Kontaktbörse für Autoren, Regisseure, Redakteure und Produzenten, auf der neue Projekte vorgestellt und verabredet werden, Pressekonferenzen zu allen vorgestellten Filmen und Fernsehprogrammen für die rund 40 akkreditierten Journalisten, dazu die vielen Kinovorstellungen, nicht wenige ausverkauft, und – in schöner Tradition – das große Familien-Film-Fest mit Stars zum Anfassen für das Kinder- und Elternpublikum aus Gera und Umgebung, und, und...
Viel, sehr viel Spannendes und Schönes durfte ich damals erleben: die Vereinigung aus nächster Nähe, interessante Begegnungen, auch Einblicke in die Zeit vor 1989, die mir sonst verborgen geblieben wäre. Viele Anekdoten könnte man erzählen: Angefangen vom Telefon, das das Festivalbüro sich während der Vorbereitung mit der Pizzeria im selben Haus an der Sorge 9 teilen musste – und wann immer jemand eine Pizza bestellte, konnten wir nicht telefonieren (Handys gehörten seinerzeit noch nicht zur Grundausstattung!), bis hin zur Arbeitszeit der städtischen Mitarbeiter, die in der Regel von sieben Uhr früh bis drei Uhr nachmittags reichte – für unsere Branche eher ungewöhnlich.
Der Charme des Aufbruchs also – und wir wissen: Jedem Neuen wohnt ein Zauber inne. Wir haben uns jedenfalls zusammengerauft und vielleicht darf ich aus der Distanz und im Nachhinein sagen: Wir haben’s nicht so schlecht gemacht, den ersten neuen GOLDENEN SPATZ – und wie zur Belohnung endete die abschließende Presseerklärung mit dem lapidaren Satz: „Das Festival hat ab sofort eine neue Adresse – Nicolaiberg 3“. Die Sorge, die Sorgen also erst einmal vergessen?
Darüber schreiben gewiss andere, an anderer Stelle...