Kinder-Film&Fernseh-Tage 1996

Aus Spatzwiki - Das Archiv zum GOLDENEN SPATZ
Wechseln zu: Navigation, Suche

„Ein Skateboard für Pippi Langstrumpf?“ – Internationale Koproduktionen und kulturelle Identität

Zusammenfassung


Rückblick

  • Christophe Erbes,

zu der Zeit Programmdirektor von Nickelodeon,Mitglied des Kuratoriums GOLDENER SPATZ 1995 und des Präsidiums von 1996 bis 1998

1996 gab es zwar kein Festival, aber es war trotzdem ein besonderes Jahr für den SPATZ: der Anfang von Margret Albers als SPATZ-Chefin! Der GOLDENE SPATZ wird also 30 und strahlt im vertrauten „gelb“ weiter. Ist das Bescheidenheit oder ein Zeichen großen Selbstbewusstseins? Letzteres ist längst gerechtfertigt und Gelb steht symbolisch für Neid: Den der anderen auf dieses schöne Festival? Gelb liegt aber auch dem Licht am nächsten und besitzt eine heitere, muntere, sanft reizende Eigenschaft. In diesem Sinne möchte auch ich dem frechen SPATZEN einige Fragen und sechs ganz konkrete Geburtstagswünsche mit auf den weiteren Weg geben. Zunächst einmal: Ja! Es gibt eine starke deutsche kulturelle Identität – das habe ich als Franzose immer wieder deutlich erleben dürfen! Und gerade darum: Noch mal ja! Sie ist stark genug, um ergänzt und bereichert werden zu können, mit lokalen, aber auch mit internationalen Produktionen. Die elektronischen Medien sind längst zu einem wichtigen Bestandteil der deutschen Kinderkultur geworden – neben Kasperle, Max und Moritz und dem Struwwelpeter. Würde Hans guck in die Luft heute leben, so fiele er deshalb ins Wasser, weil er beim Spazierengehen nicht das SMS-en lassen könnte. Und Goethes Ratschlag: „Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“ macht mir Lust, Ihnen zuzurufen: Nur zu, liebe Kollegen – wir arbeiten an der TV-Königsdisziplin! Aber dann: Welche kulturelle Identität meinen wir eigentlich? Die existierende, historische, fast vergangene – wie die Grimmschen Märchen und die Augsburger Puppenkiste zum Beispiel – oder die moderne, noch in Entstehung begriffene. Und: Bedeutet Internationalität in unserer schönen neuen, globalisierten Welt eine Gefahr oder eine Chance? Und wie gehen wir eigentlich damit um, dass sich unsere kulturelle Identität immer mehr in Teilidentitäten aufteilt: Weltbürger und Thüringer, Europäer und Bayer, Türke und Berliner? Globalisierung heißt doch auch, dass längst die ganze Welt zum Spielplatz unserer Kinder geworden ist. Dem Internet sei Dank natürlich, aber auch den Koproduktionen. Sollte man also dem SPATZ als genuin nationalem Festival mehr internationale Koproduktionen wünschen? Kann man dabei auf mehr Gewinn (an Qualität und Vielfalt) als Verlust (von nationaler Identität und Produktionsvermögen) hoffen? Warum werden Koproduktionen gemacht? Bloß weil auf nationaler Ebene nicht genug Geld zusammen zu treiben ist? Oder ist nicht das Zusammenfügen inhaltlicher Ressourcen meist viel entscheidender? Der Austausch von Fachwissen, Erfahrung und Tradition? Beispielsweise Humor aus Großbritannien, Kinderkultur aus Skandinavien, Gefühle aus Frankreich… Natürlich sind große Nationen wie Deutschland, Frankreich oder England jeweils auch ohne fremde Hilfe in der Lage, ihren Kindern spannende Beispiele der lokalen Kultur zu bieten, ihnen einen medialen Spiegel gelebter Traditionen vorzuhalten, kurz: ihnen mit Hilfe nationaler Produktionen durch den Fernsehalltag zu helfen. Ja, dies ist sogar wichtiger Bestandteil des öffentlich- rechtlichen Auftrags und eine ständige Herausforderung für die private Konkurrenz. Aber wenn das Ziel besseres Kinderprogramm sein sollte, lautet mein erster Wunsch: Lieber eine gute internationale Koproduktion als eine schlechte, unterfinanzierte, nationale Produktion! Und es ist vielleicht schade, dass sich dieses nicht auch an Hand einiger Beispiele solcher internationalen Koproduktionen im Rahmen des GOLDENEN SPATZEN vorführen und nachvollziehen lässt… Dabei haben gerade die Öffentlich-Rechtlichen in diesem Land eine lange Tradition, was internationale Koproduktionen betrifft. Bereits 1973 begann der NDR damit, eine deutsche Version der uramerikanischen SESAMSTRASSE auszustrahlen, nachdem diese zuvor den Bayerischen Prix Jeunesse gewonnen hatte. Die Verantwortlichen taten das, obwohl der BR sich zunächst ganz gegen diese Koproduktion mit Children Television Workshop ausgesprochen hatte. Ein erstes Beispiel dafür also, wie sinnvoll Festivals sein können und wie wenig sinnvoll es ist, sich gegen das Gute zu sperren. Und noch ehe der erste GOLDENE SPATZ das Licht der damals noch zweigeteilten deutschen Fernsehwelt erblickte, konnten die Kinder in Gera und Erfurt mit DIE ABENTEUER DES HERRN TAU eine Serie verfolgen, die das deutsche Fernsehen – allerdings das des Klassenfeindes – zusammen mit der befreundeten CˇSSR produziert hatte. Im ZDF lief ab 1974 WICKIE UND DIE STARKEN MÄNNER, eine gemeinsam mit Japan produzierte Serie auf der Grundlage eines 1965 mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichneten schwedischen Buches. 1976 – also drei Jahre, bevor in Gera der GOLDENE SPATZ aus der Taufe gehoben wurde, gab ein anderes, vorwiegend gelbes und fliegendes Tierchen sein Seriendebüt: BIENE MAJA, die mit Japan und den USA koproduzierte Umsetzung einer Buchvorlage des deutschen Autors Waldemar Bonsels. Und um in der Kategorie „Gelb, fliegend und erfolgreich“ zu bleiben: 1989 folgte die in Holland produzierte Serie ALFRED J. KWAK. Wenn wir uns nach dem Grund für diese erstaunliche Koproduktionsfreudigkeit fragen, so wird sehr schnell klar, dass diese immer auch eine direkte Folge der Einstellung und Weltoffenheit derjenigen war und ist, die jeweils für das Programm der involvierten Sender verantwortlich zeichnen. Sie waren und sind es, die für die Qualität, Identität, ja, für den Charakter des jeweiligen Programms stehen, unabhängig davon, ob dieses nun hausgemacht ist – wie die wunderbare „heilige“ MAUS – oder koproduziert wie PAN TAU und Konsorten. Und nicht umsonst steht sein Name verbunden mit diesen beiden richtungweisenden Produktionen: Gert K. Müntefering.

Dementsprechend lautet mein zweiter Wunsch: Lieber ein paar gute und mutige Spezialisten als viele durchschnittliche Generalisten! Dafür würde ich auch folgende Weltaufteilung vorschlagen: Der NDR arbeitet mit Skandinavien, der WDR mit den Benelux-Ländern, der SWR mit Frankreich, der BR mit Österreich und der Schweiz, der MDR mit den Staaten Osteuropas und so weiter (es bliebe noch Asien zum Beispiel). Und das ZDF könnte mit Amerika und Australien (wie jetzt schon sehr erfolgreich) zusammenarbeiten. Da eine solche große Koalition für Qualität in den öffentlich-rechtlichen Kindermedien wohl eher ein frommer Wunsch bleibt, wünsche ich mir und dem GOLDENEN SPATZ als drittes ein florierendes, schnell und unbürokratisch funktionierendes und dementsprechend effizientes Netzwerk der nationalen Kindersender, als da sind: der KI.KA hier in Erfurt, CBBC/Cbbies in Großbritannien, Gulli in Frankreich, Zeppelin in Holland usw. Und wie sieht es bei den Privaten aus? RTL ist seit längerer Zeit Mitglied der Stiftung GOLDENER SPATZ. Aber nach dem LI-LA-LAUNEBÄR und den POWER RANGERS-Jahren bietet es momentan kein Kinderprogramm mehr an. Ähnlich wie ProSieben, wo man eine Zeit lang an großen Zeichentrick-Koproduktionen – hauptsächlich mit Frankreich und Großbritannien – beteiligt war und jetzt nichts mehr für Kinder läuft. Die Spezialisten Super RTL und NICK haben dort – ähnlich wie der KI.KA bei den Öffentlich-Rechtlichen – die Hauptrolle übernommen, und zwar sehr erfolgreich, oft sogar marktführend. Welchen Einfluss haben diese nationalen Kindersender aus einer internationalen Familie? Verschieben deren Ausstrahlungen von US-Serien wie SPONGEBOB und HANNA MONTANA die kulturelle Identität oder treten sie bloß in die Spuren, die das ZDF durch die Ausstrahlung der LOONEY TUNES und die ARD mit dem DISNEY CLUB hinterlassen haben? Schließlich werden dort nun auch schon nationale, lokale Sendungen produziert. Zum Beispiel verlor Super RTL seinen Moderator Ralph Caspers, als der sich für eine Karriere beim WDR entschied, gewann aber den sehr deutschen Elefanten BENJAMIN BLÜMCHEN, weg vom ZDF. Die besten dieser nationalen Produktionen von den internationalen Senderfamilien sind auch schon beim GOLDENEN SPATZ eingereicht worden. Zu einer Prämierung hat es allerdings mit Ausnahme eines RTL-Familienfilms bisher noch nicht gereicht! Auch die dort international koproduzierten Programme – zum Beispiel die spannende und qualitativ hochwertige DRACHENJÄGER-Serie mit Frankreich – können sich sehen lassen und bergen wenig Gefahr in sich, die kulturelle Identität deutscher Kinder zu gefährden. Wunsch vier und fünf lauten also: Wie wär’s, wenn RTL seine Rolle beim GOLDENEN SPATZ an den kleinen Bruder Super RTL weiterreichen und der wiedergeborene NICK wieder als Mitglied gewonnen werden könnte?! Und, zum Thema Weltoffenheit: Als sechstes einen weiteren regelmäßigen Geburtstagsgast – den internationalen bayerischen „Prix Jeunesse“. Damit könnten wir die Entwicklung von nationaler und internationaler Qualität am besten vergleichen, die lokalen Kollegen ein wenig unter Druck setzen und ihnen zugleich Lust machen, ihrerseits Programme in Angriff zu nehmen, die eine gute Figur auch auf dem internationalen Parkett machen können. All das braucht seine Zeit, sicher, und wird sich nicht von heut auf morgen realisieren lassen. Muss es ja auch nicht – schließlich darf sich eine Hochzeit auch erst nach 50 Jahren „golden“ nennen lassen... Zusammen mit einigen gut verdienten und passenden „Rotkäppchen“ sechs Wünsche also zum 30. Geburtstag des frechen SPATZEN, damit unser Kampf für eine hochwertige Kindermedienkultur sich weiter positiv entwickeln kann. „Kinderkultur ist mehr als ein unaufgeräumtes Zimmer“, meinte einst einer der Kollegen der ARD sehr richtig, aber die Politik und die Gesellschaft scheinen es weiter ignorieren zu wollen. Unser Appell ist also kulturell, sozial und politisch, und von unserer Hoffnung darauf wollen wir nicht lassen, damit der GOLDENE SPATZ, nachdem er mit 30 längst flügge geworden ist, beweisen kann, dass er in Zukunft immer höher fliegen wird.


Kinder-Film&Fernseh-Tage
1994 | 1996 | 1998 | 2000 | 2002 | 2004 | 2006